Wie kommen Künstler auf neue Ideen?
Den künstlerischen Prozess einzufangen, ihn zu betrachten, auseinanderzunehmen und zu
analysieren, ist schwierig. Manchmal ist es am besten sich ihm eher beiläufig bei einem
Spaziergang zu nähern, denn schon der Blick auf die Welt ist ein anderer.
Von Tankred Gugisch
Wenn Mica Kempe in ihren Gummistiefeln zu den beiden Teichen am Rübenauer Kammweg
schlendert, läuft sie durch eine andere Welt als ich. Es ist dasselbe Gras, das hier hoch steht, denn im
kleinen Naturschutzgebiet wird nur einmal im Jahr gemäht. Es ist derselbe nebelverhangene Blick
hinunter ins Dorf und es sind dieselben Zecken, die am hohen Gummischaft des Schuhwerks
scheitern sollen.
Die Chemnitzer Künstlerin bleibt gelegentlich stehen und bückt sich: ein Stein, ein verworrenes Stück
Wurzelwerk, dem ein enges Rohr seine Form gegeben haben könnte. Kleine Funde – und dann, am
Wiesenrand, ein großer: Es ist das Nest einer Feldmaus, in dem sich die angenagten Kirschkerne nur
so stapeln.
Mica strahlt und unsere ohnehin karge Unterhaltung ist beendet. Sie arbeitet.
Vom Feldrain in die Galerie
Das Ergebnis dieser Arbeit bekomme ich erst Wochen später zu Gesicht und dann auch nur sehr kurz.
Ein schnell entschlossener Käufer nimmt es mit. Die Mäusekerne sind jetzt Kunst! Sie sind zentraler
Teil eines Kunstwerks. Vielleicht ein Stück eingefangene Zeit aus dem Kreislauf der Natur? Oder nur
eine warme, optische Rarität? Der Besitzer kann es sich aussuchen. Er kauft das Werk, ganz
unbeschwert vom kulturhistorischen Hintergrund.
Für die Künstlerin ist das im Grunde genau andersherum. Das Werk ist dahin – der Fluch des Unikats.
So läuft das Geschäft in der bildenden Kunst, wenn es denn läuft! Produzenten von Wäscheleinen
sind da im Vorteil. Was bleibt, ist die Idee, die nun in Mica ihr Eigenleben entwickelt. Und da ist es
gut, dass der kulturhistorische Hintergrund nicht mit veräußert wurde. Gibt es da nicht die soziale
Skulptur, mit der Joseph Beuys die Welt, Kassel allem voran, veränderte? Die “Stadtverwaldung statt
Stadtverwaltung” der documenta mit ihren 7.000 Bäumen? Genau 40 Jahre wird das zur nächsten
Schau im Jahr 2022 dann her sein. Die Kuratoren dieser 15. Ausgabe werden noch staunen, denn
natürlich muss es zu diesem runden Jubiläum auch um die Samen der Bäume gehen. Was sie nicht
wissen: In Chemnitz wird von Mica Kempe dank einer Rübenauer Feldmaus bereits daran gearbeitet.
Dem Käufer das Kunstwerk, der Künstlerin die kreativen Gedanken. Der Autor kehrt zur
Ausgangsfrage zurück: Wie also kommen Künstler auf neue Ideen? Nun, es ist im Grunde gesagt: Sie
sehen mehr als andere, mehr als ich und vielleicht auch mehr als du. Und ist das Gesehene einmal in ihrem Kopf, dann arbeitet es, ohne dass sie selbst noch viel tun müssten. Künstler haben einfach Glück.
Dem Glück auf die Sprünge helfen
Wenn bei meinem Freund Rudi der Wecker klingelt, ist es selbst im Sommer noch dunkel. Er nimmt
das am Abend vorbereitete Brot und das Auto zur Arbeit. Was genau Rudi macht, weiß ich bis heute
nicht. Als wir uns kennenlernten, war er Dachdecker, aber dann wollten die Lendenwirbel nicht mehr
so recht. Seine heutige Arbeit beginnt jedenfalls nicht mit einem Ausflug ins Naturschutzgebiet. Und
er denkt am Abend auch nicht über moderne Kunst und die documenta nach. Der Abend gehört der
Familie, die groß genug ist, ihn bis auf die letzte Minute auszufüllen.
Wenn ich Rudi mal treffe, das kommt leider selten vor, ist er immer gut drauf. Die Dinge, die er nicht
tut, vermisst er auch nicht. Für alles andere findet er Zeit, holt es sich aus dem Kühlschrank oder legt
es in seinen DVD-Player.
Bei Mica ist es nicht immer der Fall, dass sie gut drauf ist. Manchmal ist das Eigenleben der Gedanken
eben auch nicht gerade förderlich. Dann rennen sie in eine falsche Richtung und müssen erst wieder
eingeholt werden. Das kostet Nerven, denn wenn man sie nicht rechtzeitig erwischt, entsteht keine
Kunst und es stapeln sich womöglich die gedruckten Briefe im Flur, die niemand öffnen möchte.
Und natürlich kostet das auch Zeit, aber die hat Mica. Ihre Zeit ist ja genau dafür da, um die
Gedanken entweder wieder einzufangen oder in Form von Kernen in eine kreisrunde Struktur zu
bringen. Rudi hätte diese Zeit nicht, aber er braucht sie auch nicht. Das hat das Leben trefflich
eingerichtet.
Die Mär von der verlorenen Zeit
Schon um nicht feige zu sein, frage ich mich manchmal, warum ich eher (versehentlich) ein
Mäusenest im Gras zertreten würde, als es stolz in eine Galerie zu tragen. Eine Antwort darauf habe
ich: Wenn ich zum Beispiel an der Bushaltestelle stehe, ist das heute keine “verlorene” Zeit mehr,
denn ich kann schnell ein paar Mails auf dem Handy beantworten, die ohnehin schon viel zu lange
warten. Und wenn ich mich an den Schreibtisch setze, um einen Text zu schreiben, dann hat das
einen Sinn: Es wird leidlich bezahlt und ist im Grunde keine schlechte Tätigkeit. Und am Abend?
Schön, dass die Familie wartet.
Einfach so durchs Gras schlendern, ganz ohne Ziel? Das machen meine Gedanken nur mit, wenn sie
ihre Kollegen aus dem nächsten Hirnstübchen mit Nachdruck dazu auffordern. Das funktioniert zwar,
bringt aber nur Freizeit und keine Freiheit. Die aber braucht es, um wirklich kreativ zu sein. Oder
kennen Sie jemanden, der bewusst losgeht, um im Gras nach abgenagten Kirschkernen zu suchen,
um der nächste Joseph Beuys zu werden? Ich nicht, denn so läuft das nicht mit der Kunst! Vorsatz ist
hier einfach nicht gefragt und die “verlorene” Zeit die wichtigste. Und wer jetzt mit lauter
Gegenbeispielen kommt, der ist wohl in einem Gedankenspiel, das anderen Regeln folgt.
Widerspruch abgelehnt!